Die jüdische Gemeinde in Kirchen 1736 – 1938

Der Anfang jüdischen Lebens im Dorf Kirchen geht auf den 1736 erfolgten Auszug  fünf jüdischer Familien aus dem schweizerischen Dornach (Dorneck-Dorf, Kanton Solothurn) zurück, wo sie in diesem Jahr ausgewiesen worden waren. Bis 1790 war die Zahl der jüdischen Familien am Ort auf elf angestiegen.


Durch die Zahlung hoher  Geldsummen und Steuern erwarben sich diese

Familien mit den Schutzbriefen der badischen Markgrafen die Niederlassungs-bewilligung  in Kirchen.  In Folge der Neuordnung Mitteleuropas durch Napoleon erfuhren auch die am Rande der damaligen Gesellschaft lebenden Juden in Baden eine neue gesetzliche Form ihrer Existenz als Einzelne und als jüdische Gemeinden. In den „Konstitutionsedikten“ wurden aus Geduldeten, badische Staatsbürger mit gleichen Rechten und Pflichten.


Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Zahl der jüdischen Einwohner wie folgt: 1810: 60 jüdische Einwohner. Die höchste Zahl wurde 1871 mit 192 (ca. 18%) Personen erreicht, während 1900 nur noch 102 (10%) Juden in Kirchen lebten.

An Einrichtungen hatte die jüdische Gemeinde eine Synagoge, eine jüdische Schule (Religionsschule), ein rituelles Bad und einen Friedhof. Die stattliche Synagoge, deren Architektur stark an ägyptische Stilformen angelehnt war und als Vorbild den Weinbrennerschen Synagogenbau in Karlsruhe nicht verleugnen konnte,  wurde 1831 eingeweiht und diente der jüdischen Gemeinde bis zum Novemberpogrom als Gottesdienststätte. Das rituelle Bad, die Religionsschule und die Lehrerwohnung befanden sich im Nebengebäude. Der an der Bahnlinie liegende jüdische Friedhof wurde 1878 seiner Bestimmung übergeben und weist rund 100 Bestattungen aus. Nachdem der jüdische Friedhof die Zeit des Natio-nalsozialismus ohne wesentliche Beschädigungen überstanden hatte, was wohl seiner abgeschiedenen Lage zuzuschreiben ist, wurden Grabstätten 1965 und mehrmals danach zerstört oder beschädigt. Die Gedenktafel im Friedhofsinnern und an der Außenmauer erinnern an die  Verschleppten und Ermordeten der jüdischen Gemeinde von 1938 -1945.

 

Die  religiösen Aufgaben der Gemeinde nahm der jeweilige Religionslehrer wahr, der zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war. Bis 1834 unterrichtete in Kirchen als Hauslehrer der spätere Rabbiner von Hegenheim, Moses Nordmann. Er gehörte einer völlig neuen Theologengeneration an, indem er jüdische Gelehrsamkeit durch ein Universitätsstudium erweiterte. Eine Fülle von Reformen des praktischen wie gottesdienstlichen jüdischen Lebens geht auf ihn zurück. Als jüdische Religionslehrer im 20. Jahrhundert waren tätig: 1913 bis 1923 Jakob Alperowitz aus der Schweiz (später in Müllheim, von wo aus er weiterhin Kirchen mit betreute), 1923 bis 1930 Leopold Braunschweig aus Kirchen, zuletzt bis 1935 Ludwig Alfred Rosenberg aus Breisach (emigrierte in die USA). An jüdischen Vereinen war eine Chewroh Kadischa vorhanden (Wohltätigkeits- und Beerdigungsverein) sowie ein Waisenverein.


Die jüdischen Familien lebten in der Mehrzahl vom Viehhandel. Später gab es auch einen jüdischen Metzger (noch 1912 der einzige Metzger in Kirchen), eine jüdische Gastwirtschaft sowie einen jüdischen Arzt. Bis nach 1933 bestanden an jüdischen Gewerbebetrieben u.a.: Viehhandlung Isaak und Salomon Bloch (Basler Straße 38), Viehhandlung Veist Bloch (Bergrain 1), Viehhandlung Isaak Braunschweig (Bergrain 4), Handelsmann Samuel Moses I (Basler Straße 21), Fellhandlung Gebr. Moses, Inh. Alfred Weil (Neusetze 20).

Im Ersten Weltkrieg fielen aus der jüdischen Gemeinde: Simon Braunschweig (geb. 29.3.1871 in Kirchen, gefallen 16.1.1918) und David Moses (geb. 16.8.1876 in Kirchen, gefallen 1.7.1916). 


1933 lebten noch 68 jüdische Personen am Ort. Auf Grund der Folgen des wirtschaftlichen Boykotts, der zunehmenden Entrechtung und der Repressalien ist ein größerer Teil von ihnen in den folgenden Jahren emigriert. Unter den in die USA Ausgewanderten war der Arzt Dr. Baum, der seine Praxis schließen musste. Beim Novemberpogrom 1938 ist die Synagoge im Innern geschändet und schwer beschädigt worden. Eine Parteiformation, aus Haltingen kommend, unter der Führung des dortigen Bürgermeisters, plünderte die Synagoge, warf das aus der Lehrerwohnung stammende Geschirr auf die Straße und die anliegenden Gärten und zerstörte den Kultraum des Gotteshauses. Die Juden Kirchens wurden zusammengetrieben und mussten dem schrecklichen Schauspiel der Verwüstung ihrer Synagoge zusehen. Die 8. Volksschulklasse wurde am nächsten Morgen zur zerstörten Synagoge geführt. Die meisten jüdischen Männer sind wenig später in das KZ Dachau deportiert worden aus dem sie nach 8 Wochen wieder zurückkehrten.

 

Bei Kriegsausbruch ist Kirchen wie die anderen in Rheinnähe liegenden Dörfer evakuiert worden. Die jüdischen Einwohner wurden zum Teil nach Konstanz eingewiesen. Durch Artilleriebeschuss ist die Ruine der Synagoge 1940 zerstört und später deren Trümmer abgetragen worden. Im Oktober 1940 sind 23 der 1933 in Kirchen wohnhaften jüdischen Personen in das Internierungslager  Gurs deportiert worden, das ursprünglich für spanische republikanische Soldaten eingerichtet wurde. Von diesen starben vier im Lager Gurs, fünf erlebten das Kriegsende, sieben sind 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet worden. Weitere sieben Personen sind verschollen. Weitere aus Kirchen stammende Juden wurden von anderen Orten aus deportiert und sind später in Vernichtungs-lagern ermordet worden.

 

Damit endete die 200 Jahre dauernde Geschichte jüdischer Existenz in Kirchen, die geprägt war von einem meist friedlichen nachbarschaftlichen Miteinander von Christen und Juden.

 

Ab dem Jahr 1983 bis 1991 kam es zu verschiedenen Begegnungen ehemaliger jüdischer Bewohner Kirchens und deren Angehörigen mit den heute im Dorf Lebenden. Diese Treffen kamen auf Einladung der Gemeindeverwaltung Efringen-Kirchen zustande und zeitigten durch die Moderation des damaligen Landesrabbiners von Baden Dr. N.P. Levinson ein Klima echter Gesprächs-bereitschaft.

 

Der letzte hauptamtliche Religionslehrer in Kirchen, Alfred Ludwig Rosenberg, schloss 1991 seine Ansprache mit den hoffnungsvollen Worten:

„Die Vergangenheit haben wir ererbt, die Zukunft müssen wir bauen. Heute war der erste Tag meiner Zukunft.“

 

Es bleibt nach diesen Begegnungen den jetzt Lebenden nur noch die Erinnerung an eine einst blühende jüdische Gemeinde in der oberen Markgrafschaft.  Schilder und Tafeln weisen auf die nicht mehr vorhandenen Denkmäler jüdischer Existenz in Kirchen hin. Nur der erhaltene Friedhof ist in Gänze mit den Namen der längst Verstorbenen Zeichen des einstigen jüdischen Lebens geblieben.

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